Mit dem Mercedes EQS elektrisch um die winterliche Ostsee
Es heißt, mit dem Elektroauto seien Langstreckenfahrten heutzutage kein Problem mehr. Aber gilt das auch im hohen Norden, mitten im Winter? Um das herauszufinden, haben wir den Mercedes EQS auf eine Runde um die Ostsee geschickt.
SP-X/Bodo/Norwegen. Exakt 3.157 Kilometer und 37 Stunden Fahrzeit – wer von der Mitte Deutschlands ans Nordkap fahren will, der braucht viel Zeit und jede Menge Sitzfleisch. Und wer dabei die übliche Route über Kopenhagen und Stockholm verlässt und stattdessen durchs Baltikum fährt, zusätzlich auch noch ein bisschen Abenteuergeist. Erst recht mit einem Elektroauto. Selbst wenn es ein Mercedes EQS ist, der vielen als aktuell beste Limousine an der Ladesäule gilt.
Aber nur lamentieren und theoretisieren gilt nicht. Wer wirklich wissen will, was Elektroautos taugen, wie weit man damit kommt und wie die sich im Winter schlagen, der muss es selbst ausprobieren. Und je härter die Prüfung, desto belastbarer die Erkenntnis.
Bereit für die winterliche Abenteuerfahrt
Deshalb liegen vorsichtshalber Schlafsack, Schneestiefel, Esbit-Kocher und Teegeschirr im Kofferraum, als der weiße Riese im Februar erst gen Osten und dann gen Norden startet, um einmal die Ostsee zu umrunden, den Polarkreis zu kreuzen und über die Lofoten und die norwegische Fjord-Küste wieder nach Süden zu drehen.
Knapp 108 kWh Batteriekapazität sollten die Sorgen vertreiben, 523 PS die Reisezeit zumindest in Deutschland reduzieren und der Allrad-Antrieb jenseits des Polarkreises die Spikes kompensieren, die sie hier oben sonst alle in den Reifen haben. Und selbst die Wellnessfunktionen von Energizing Comfort, so viel sei schon mal vorweggenommen, werden sich noch als nützlich und angenehm erweisen, wenn man am Tag 12 Stunden und mehr im Auto sitzt.
Lade-Überaschung in Polen
Die Überraschung bei diesem Roadtrip der Extreme beginnt gleich hinter der ersten Grenze – denn in Polen, mit etwa 75 Prozent Kohlenstrom alles andere als ein grüner Vorreiter in Europa, ist das Ladenetz extrem gut ausgebaut, und die Säulen stehen nicht nur dicht beieinander, sondern haben alle auch richtig Power. Und vor allem sind sie immer frei. Denn weder zwischen Görlitz und Warschau, noch am zweiten Tag auf dem Weg zur Grenze nach Litauen ist ein Plug-in-Hybrid oder gar ein reines Elektroauto zu sehen. Und dass Mercedes Me Charge sich partout nicht mit den Säulen verstehen will, ist auch kein Hindernis. Denn im Hotel hängt sehr zur Überraschung der Rezeptionistin eine Wallbox in der Garage und macht den EQS über Nacht sogar kostenlos voll.
Derart gut gerüstet, geht es erst über Fern- und dann über Nebenstraßen mit dem gebotenen Abstand an Kaliningrad vorbei ins Baltikum, wo in Litauen das nächste Lade-Abenteuer wartet. Nicht nur, dass es dort gar kein Abkommen zwischen Mercedes und den Energieversorgern gibt. Nein, der lokale Anbieter hat seine App auch noch in der Landessprache programmiert, und zwar ausschließlich. Und Kreditkarten lassen sich dort auch nicht hinterlegen. Geladen wird nur vom persönlichen Guthaben. Also sucht man sich spät nachts im stürmischen Regen einen freundlichen Fußgänger, der einem tapfer bei der Registrierung hilft und dann mit der lettischen Antwort auf PayPal auch noch das Bargeld in ein Guthaben verwandelt, mit dem sich der EQS in der nächsten Nacht den Strom zieht. Bei einer Ladeleistung weit unter 20 kW allerdings ist das wohl eher Kriechstrom.
Nun wirds deutlich unter 0 Grad
Während in Deutschland noch mit Bleifuß gefahren und in Polen zumindest die 140 km/h ausgereizt wurden, die auf den leeren Autobahnen erlaubt sind, ist das Durchschnittstempo im Baltikum längst dramatisch gesunken, und mit ihm die Temperatur. Deshalb bleibt der Verbrauch weit oben, und selbst wenn der EQS schneller als 80 fährt, sind Werte deutlich unter 20 kWh pro 100 km hier nicht zu erreichen. Kein Wunder, schließlich hat es deutlich unter 0°, und neben der Sitzheizung arbeitet auch die Massage durch. Was das an Reichweite kostet, sieht man sofort auf dem Eco-Bildschirm: Mit eingeschränkten Klimakomfort wären schnell 60, 70 Kilometer mehr drin, und der Sitzkomfort kostet noch mal 20. Wie gut, dass auch hier alle halbe Stunde eine Ladesäule zu finden ist, und dass die sogar relativ flott sind. Denn irgendwie ist es noch viel zu früh, um mit dem Wald am einsamen Ladeplatz den Teekessel aufzusetzen.
So führt die Route von Litauen nach Lettland und von dort nach Estland, wo es zwar bitterkalt ist, für die Straßenverwaltung aber schon zu warm. Die so genannten Iceroads, die im tiefen Winter die Fähren zwischen Hapsal und den vorgelagerten Inseln im Finnischen Meerbusen ersetzen, sind deshalb bereits wieder gesperrt und dem EQS bleibt ein Abenteuer vorbehalten. Doch reicht schon der Fotostopp im, wo die Fähren sich einen Kanal ins Eis gebrochen haben, um das Auto auszukühlen und ihm mal eben 80 Kilometer Reichweite zu klauen. Aber kein Problem, nach Tallinn sind es ja nur noch 200 Kilometer, die schafft der Mercedes auch mit tiefgekühltem Akku. Und selbst wenn es in Estland augenscheinlich relativ viele Elektrofahrzeuge gibt, wird sich da schon ein freier Strecker finden.
Ab auf die Fähre
Eigentlich könnte die Fahrt von Tallin aus nach St. Petersburg und dann weiter nach Murmansk gehen, wo die Temperaturen noch niedriger und die Lücken im Ladennetz noch größer sind. Das wäre mal ein Abenteuer! Doch seit sich Russland mit dem Einmarsch in die Ukraine ins Abseits gestellt hat, gibt’s keine Alternative zur Abkürzung durch Finnland: Von Tallin aus geht das elektrische Mercedes-Flaggschiff deshalb auf die Finbo Cargo nach Helsinki und legt die ersten von vielen Kilometern auf dem Wasser zurück.
Danach führt die Route schnurstracks nach Norden und birgt nachts um zwei das nächste Abenteuer – denn das erste Laden in einem neuen Land, bei einem neuen Anbieter ist immer von etwas Nervosität begleitet. Wie klappt die Kommunikation zwischen Autos und Säule, wie funktioniert die Authentifizierung und wie das Bezahlen? Das sind Fragen, über die man so früh am Morgen eigentlich nicht nachdenken möchte. Und erst recht möchte man nicht unverrichteter Dinge zur nächste Säule weiterziehen. Und überhaupt: McDonald’s Café kann man schon nach vier Tagen nicht mehr schmecken, genauso wenig wie Burger zum Frühstück. Warum eigentlich müssen Ladesäulen auch hier oben im ach so weit entwickelten Skandinavien immer in der kulinarischen Diaspora stehen? Aber es hat wahrscheinlich auch einen Grund, dass der EQS hier tatsächlich mit bis zu 189 kW laden kann. Denn länger möchte hier wirklich keiner bleiben.
Kälte und dichter Schneefall
Zwei Cheeseburger und einen halben Liter brauner Plörre später ist der Mercedes gerüstet für die lange Nacht nach Norden, die sich von ihrer besonders garstigen Seite zeigt. Denn zur Kälte kommt jetzt noch dichter Schneefall und schon lange vor dem Polarkreis sind die Straßen dick weiß und der Allradantrieb macht sich genauso bezahlt wie die Hot-Stone Massage, die einen die vielen Kilometer wieder aus dem Kreuz knetet.
Im gemäßigten Tempo geht es weiter nach Norden mit einem Zwischenstopp beim Weihnachtsmann, der hier in Rovaniemi direkt am Polarkreis 365 Tage Jahr Dienst schiebt, genauso wie Rudolph und die anderen Rentiere, die den ganzen lieben langen Tag genau wie die Schlittenhunde die Klischees bedienen und allerlei Touristen durch den Wald und über die Flüsse zerren. Anders als im Süden in Estland sind die hier oben so dick zugefroren, dass sie auch den 2,5-Tonner aus Stuttgart tragen und man nicht erst den Umweg bis zur nächsten Brücke fahren muss – schließlich zählt jeder Kilometer, wenn die Lücken im Ladenetz so langsam größer werden.
„Voraussichtliche Abfahrtszeit Sonntag, 23 Uhr“
Wie wichtig es ist, immer und überall voll zu laden, merkt der Polarexpress ein paar Stunden später im nächsten Nachtquartier, wo der EQS am Donnerstagabend die auf jedem Parkplatz installierte 220 Volt-Buchse nutzt, mit der hier konventionelle Autos ihren Kühler heizen, damit er bei 20 Grad unter Null nicht einfriert. „Voraussichtliche Abfahrtszeit Sonntag, 23 Uhr“ meldet die Mercedes-Me-App, die neben Google Maps und den vielen Ladekarten zur wichtigsten Anwendung auf dem Telefon wird, zur allgemeinen Erheiterung. Immerhin bedeutet das dreimal die Chance auf Polarlichter.
Nicht umsonst gibt’s in der Lodge eigens einen Aurora-Tracker, der die Hotelgäste bei entsprechendem Wetter weckt. Doch drei Nächte Ladepause? Nein Danke! Dann doch lieber noch einen Ausflug zum nächsten Schnelllader, an dem – so klein ist die Welt – gerade ein paar alte Kollegen, die jetzt in Diensten der Industrie stehen, ihre elektrischen Prototypen flott machen für die letzten Testfahrten vor dem Serienstart. Erdacht wurde die elektrische Revolution in Kalifornien, in Wolfsburg, München oder Stuttgart – doch ihren Ausgang hat sie nämlich nördlich des Polarkreises genommen.
Im Konvoi zum Nordkap
Eigentlich sollte die Route von hier aus schnurstracks zum Nordkap gehen. Doch nach tagelangem Schneefall ist die nördlichste Straße auf dem Kontinent nur im Konvoi zu befahren. Und weil der Schneepflug nur morgens hin und abends zurück fährt, verliert man einen ganzen Tag. Den verbringen wir lieber auf der Landstraße durch Schweden und Norwegen zurück zur Fjordküste, wo sich über den spektakulären Lyngener Alpen spät am Abend endlich die lang ersehnten Polarlichter einstellen. Im warmen Whirlpool mitten im Nirgendwo, natürlich mit Naturstrom geheizt, vor den Augen den Ford, die Gletscher im Mondschein und darüber die tanzenden Schwaden blauen und grünen Lichts – allein deswegen hat sich der Trip gelohnt. Allein aus diesem Grund muss der auch im Winter sein. Wer braucht schon die Mitternachtssonne, wenn es stattdessen Polarlichter gibt?
Getrübt wird die Freude nicht einmal von der mangelnden Infrastruktur. Denn nur weil die Wirte einen Tesla fahren, kann man zwischen den Glas-Iglus und dem Designer-Restaurant noch lange nicht laden – und zuckelt deshalb am nächsten Morgen auf Sparflame weiter gen Süden. Aber natürlich erst, nachdem der Nachbar mit dem Schneepflug am Traktor den Weg wieder frei gefräst hat. Doch so langsam sind Fahrer und Fahrzeug so miteinander vertraut und selbst Plug & Charge funktioniert so gut, dass es keine große Reserve mehr braucht und der EQS mit immer weniger Restreichweite an die Ladesäule rollt. So werden die Etappen länger, die Pausen besser gewählt und bisweilen fährt die Stuttgarter Limousine tatsächlich mal 400 Kilometer am Stück.
Auf den Lofoten mit garstigem Wetter
Spannend wird es erst wieder auf den Lofoten, wo sich das Wetter von seiner wechselhaften und vor allem garstigen Seite zeigt. Erst versinkt die Inselkette im Schnee, dann sorgt ein Wärmeeinbruch für spiegelglatte Straßen und zu allem Übel verhindert das Wetter auch noch das Weiterkommen: Vorwärts gilt Lawinenwarnung und rückwärts ist die Brücke wegen eines Sturms gesperrt – so ist der EQS plötzlich auf einer Insel gefangen und der Kopf kalkuliert, wie lange wohl hier im Stau noch die Klimaanlage läuft und wie man wohl zur nächsten Ladesäule kommt, wenn man den Wagen nicht einmal abschleppen darf.
Die Sorgen sind verständlich – aber überflüssig. Schließlich hat die elektrische S-Klasse zusammen mit einem Tesla und einem Audi E-tron GT am Morgen noch im kleinen Ladepark im Herzen der Inselhauptstadt Solvaer gestanden und quittiert die drei Stunden Stillstand mit einem lauwarmen Lüfterrauschen. Klar, sinkt die Zahl auf dem Bordcomputer, zumal 100 km/h Gegenwind auf der Herfahrt ihren Tribut gefordert haben. Doch der Länge nach messen die Lofoten keine 200 Kilometer, und die sind immer noch locker drin. Erst recht, weil ja schon vorher eine Fähre aufs Festland führt.
Die Rückfahrt beginnt entspannter
Mit der beginnt der entspannte Teil der Rückfahrt. Ja, die erfolgt nicht ganz auf dem direkten Weg und führt nochmal durch Arjeplog und Arvidsjauer, wo der EQS seinem kleinen Bruder EQE begegnet und den Prototypen der baugleichen SUV, während Verbrenner im Königreich der Prototypen zunehmend in die Unterzahl geraten. Doch zwei Tage später, an der Küste, übernehmen über weite Strecken schwere Diesel die Fortbewegung. Denn alle paar Stunden rollt der EQS auf die Fähre und kreuzt wieder einen Fjord: Fahren, und fahren lassen – auch so lässt sich die spürbar Reichweite verlängern.
Und wer sich fragt, wo bei einer Ostseerundfahrt die ganzen Fjorde herkommen, der googlet am besten mal den Atlanterhavsveien und stellt fest, dass diese nicht einmal zehn Kilometer lange Küstenstraße auch den weitesten Umweg lohnt. Erst recht, weil die restlichen Routen entlang des Atlantiks einfach schöner sind als die an der Ostsee. Und zum Ausgleich fährt schließlich von Stavanger eine Fähre nach Dänemark, wo es nach zwölf Tagen über die vorletzte von insgesamt zwölf Grenzen geht, an der – Europa sei Dank – schon wieder keiner einen Pass oder wenigstens einen Impfnachweis sehen will. Die letzte Etappe beginnt.
Tempo rauf, Reichweite runter
Mit jedem Meter näher an die Heimat ändert sich allerdings auch das Fahrgefühl. Eben noch tiefenentspannt und tempolimitiert, hört man auf der deutschen Autobahn wieder den Lockruf der Leistung und ist ruck zuck zurück im Kampf auf der linken Spur. Mit den üblichen Konsequenzen: Das Tempo geht rauf und die Reichweite runter. Auch wenn es 20 Grad wärmer ist als am Polarkreis, sind die verbrieften 679 Kilometer so deshalb hier genauso wenig zu schaffen, hier wie dort muss man mit rund 500 Kilometern mehr als zufrieden sein.
Aber nicht nur der Verbrauch und die Reisegeschwindigkeit steigen und mit ihr der Stresslevel. Je näher das Ziel kommt, desto geringer wird auch das Heimweh und das Reisefieber beginnt schon wieder zu steigen. Ja, der Trip-Computer zeigt 9.117 Kilometer, 137 Stunden, 66 km/h Durchschnittgeschwindigkeit und 26,6 kWh Durchschnittsverbrauch an und es könnte jetzt eigentlich mal gut sein. Aber andererseits: Wieso eigentlich anhalten und nicht durchfahren bis zum Cabo da Rocca, dem südwestlichsten Punkt des Kontinents ganz unten in Portugal? Nach den eisigen Nächten hat sich der Stuttgarter Nordlandpfeil ein bisschen Sonne verdient und sein Fahrer auch. Und in den letzten zwei Wochen hat der EQS ja bewiesen, dass sich Fernweh und Elektromobilität nicht mehr ausschließen. Selbst im Winter. Also Schluss mit der Jagd nach dem Polarstern, für die nächsten 2.500 Kilometer gibt das Kreuz des Südens den Kurs vor.