Mercedes 300 SL: Mit dem Flügeltürer auf der Mille Miglia
Bella Macchina – keinen Ausruf hört man in Italien öfter. Zumindest während der Mille Miglia. Erst recht, wenn man das berühmteste Oldtimer-Rennen der Welt in einem Mercedes 300 SL bestreitet. Aber nicht für alle Beteiligten sind die 1.600 Kilometer das reine Vergnügen.
SP-X/Brescia/Italien. Ellen Lohr reibt sich freudig die Hände und geht nervös auf und ab. Zwar hat die Rennfahrerin schon so ziemlich alle PS-Prüfungen absolviert, die Motosport und Oldtimer-Szene zu bieten haben und startet hier und heute deshalb auch zu ihrer sechsten Mille Miglia. Doch sind die 1.000 Meilen von Brescia nach Rom und wieder zurück für sie trotzdem etwas ganz Besonderes – erst recht, wenn sie die Strecke wie so oft in einem Flügeltürer absolviert. Schließlich war es ein Mercedes SL, mit dem Stirling Moss vor 67 Jahren jenen Rekord für die Ewigkeit ausgestellt hat, der heute so unfassbar scheint. Gerade mal 10 Stunden, 7 Minuten und 48 Sekunden hat der Brite für die knapp 1.600 Kilometer gebraucht und dabei im öffentlichen Straßenverkehr einen nie wieder erreichten Schnitt von 157,651 km/h herausgefahren.
Mercedes 300 SL aus dem Jahr 1956
Lohrs Oldtimer dagegen, ein 300 SL aus dem Jahr 1956, und damit schon die erste Evolutionsstufe des Siegerwagens, wird für eine ganz ähnliche Route zwei halbe und zwei ganze Tage brauchen und auch das nur schaffen, weil die Polizei alle Augen zudrückt oder bisweilen sogar dabei hilft, die Verkehrsregeln – nun ja – ein bisschen freier zu interpretieren als üblich.
Von der Rampe ins Abenteuer
Während Lohr also voller Vorfreude das Roadbook studiert, sich letzte Notizen zur Streckenführung macht, die vorgegebenen Durchschnittsgeschwindigkeiten ausrechnet, im Kopf die Schlauchprüfungen durchgeht und kaum erwarten kann, bis sie in der Viale Venezia endlich von der Rampe ins Abenteuer rollt, sitzt Andreas Häberle zwei Tische weiter und von Vorfreude ist in seinem Gesicht nur wenig zu erkennen. Auch er ist eine Routinier auf der Route nach Rom, hat nach einem Dutzend Mille-Teilnahmen zu zählen aufgehört und auf der Strecke durch das Piemont, die Marken, das Latium, Umbrien, die Toskana und die Emilia Romagna schon so ziemlich alles erlebt, was die berühmteste, schönste und für viele auch härteste Oldtimer-Rallye der Welt zu bieten hat: Die fast schon kindliche Begeisterung für die Bella Macchina selbst bei Nonnen und Grundschülern, Wetterkapriolen von Gluthitze bis Hagelsturm, einsame Küstenstraßen, überfüllte Stadtautobahnen, leidenschaftliche Gebirgspässe, enge Zuschauer-Spaliere in den romantischen Altstädten und natürlich immer wieder die nächtliche Stadtrundfahrt durch Rom, gegen die selbst James Bonds letzte Verfolgungsjagd eine Spazierfahrt war, so schnell rasen die Teilnehmer kurz vor der Geisterstunde ums Kolosseum. Aber Häberle hat auch Pleiten, Pech und Pannen erlebt – und so manchen Unfall, von denen nicht alle glimpflich ausgegangen sind.
Acht Mercedes-Mechaniker
Nur sitzt Häberle nicht in einem Oldtimer, sondern in einer V-Klasse voller Werkzeug und Ersatzteile. Denn der Schwabe ist einer von acht Mechanikern, mit denen Mercedes die drei eigenen Flügeltürer aus dem Museum und fünf Kundenautos auf der Mille Miglia begleitet. In zwei Teams am Tag und zwei in der Nacht sollen die Spezialisten dafür sorgen, dass die 70 Jahre alten Rennwagen genauso so problemlos über die Runden kommen, wie der neue SL, der zur Feier des runden Geburtstages und des gerade erfolgten Generationswechsels im Begleittross um die Flügeltürer herumschwirrt wie die Bienen um die Sonnenblumen zwischen den Weinbergen in der Toskana.
Drei Liter grosser Reihensechszylinder
Bei Temperaturen weit jenseits der 30 Grad ist das leider nicht selbstverständlich, klagt der Mechaniker. Denn die Hitze wird nicht nur für die Insassen zur Tortur, die fast so viel Durst entwickeln wie der drei Liter große Reihensechszylinder vorn unter der flachen Haube und hinter den Sitzen das Leergut horten, als hätten sie es auf Einwegpfand abgesehen. Jenseits der 110 Grad wird es für die Zündung gefährlich, sagt Häberle, und hat schon auf dem Weg zur Startrampe 150 Grad im Motorraum gemessen: „Solange das Auto fährt, ist das alles kein Problem. Aber im Schritttempo durch die Städte ist für den Wagen eine Qual, und das Stehen vor den Prüfungen ist Gift. Der Motor braucht einfach den Fahrwind.“
Einer der erfolgreichsten Rennwagen seiner Zeit
Das lässt sich das Team in Wagen 347 nicht zweimal sagen, sondern gewährt dem 215 PS starken Motor jenen Auslauf, der den Flügeltürer in den 1950ern zu einem der erfolgreichsten Rennwagen seiner Zeit gemacht hat. Während andere Teilnehmer in ähnlich alten Autos noch mit unsynchronisierten Getrieben kämpfen, mit Zwischengas spielen und ihren Wagen nur mit Mühe auf Kurs halten können, wirkt der Oldtimer dabei eher wie ein Youngtimer. Die Lenkung präzise, die Viergang-Schaltung leichtgängig und das Fahrwerk schier unerschütterlich fliegt der Flügeltürer so schnell durch die Toskana, dass die Zypressen am Wegesrand zu grünen Schlieren verschwimmen. Und nur die auf Dauer wenig vertrauenserweckenden Trommelbremsen gemahnen den Fahrer daran, das Spitzentempo von 250 km/h allenfalls auf sehr langen Geraden auszureizen.
Blinker raus und rein in den Gegenverkehr
Verkehrsregeln jedenfalls stoppen den Mille-Tross kaum und haben allenfalls einen empfehlenden Charakter. Und ein Blick ins Gesicht der Carabinieri reicht zu der Erkenntnis, dass die das genauso sehen: Also Blinker raus und rein in den Gegenverkehr. Zum Rechtsabbiegen fährt mal erst einmal ganz links an allen vorbei und zieht erst hinter der roten Ampel rüber. Wenn der Kreisverkehr nur eine Spur hat, macht man trotzdem eine zweite auf. Und an roten Ampeln hält hier keiner mehr. Und das Verrückte dabei: Statt Flüchen und böser Blicke gibt’s von den Ausgebremsten immer die gleiche Reaktion: Ein strahlendes Lächeln, ein gereckter Daumen und das ewige „Bella Macchina“ tragen den Flügeltürer auf den Schwingen der Motorliebe durchs Land. Ach Italien, allein dafür muss man Dich mögen. Und da haben wir über Pizza und Pasta, Salami und Formaggio an Zwischenstopps noch gar nicht gesprochen. Von Vino und Spumante ganz zu schweigen.
Nachtschicht für die Mechaniker
Kein Wunder, dass Lohr mit einem breiten Grinsen im Gesicht zur Halbzeit in Rom einrollt. Und Häberle lacht gleich mit. Die eine strahlt, weil sie die längste Etappe der Rallye heil hinter sich gebracht hat, und der andere, weil es unterwegs nicht viel mehr als ein paar Kleinigkeiten zu erledigen gab. Große Schäden jedenfalls sind genauso ausgeblieben wie Unfälle. Und dass jetzt bei einem Kundenfahrzeug über Nacht das Getriebe gewechselt werden muss, das tut ihm zwar leid für die Kollegen von der Nachtschicht, die erst nach Mitternacht anfangen können und um fünf rechtzeitig gerade rechtzeitig vor dem Start fertig werden. Aber dafür durften die sich ja auch den ganzen Tag ausruhen.
Espressi und Gelati
Auch Tag 3 ist einer, an dem nichts die Laune der beiden trübt. Im Gegenteil: Die eine freut sich über einen neuen Fahrer, mit dem es in den Gleichmäßigkeitsprüfungen 25 Plätze nach vorn geht. Und der andere über die vielen Espressi und Gelati, die er am Wegesrand genießen kann, weil die Flügel laufen wie ein Uhrwerk. „Die paar Kilometer von Parma nach Brescia werden jetzt doch wohl auch noch gut gehen“, freut sich Häberle bei der Übergabe an die Nachtschicht – und hat die Rechnung offenbar ohne Classic-Chef Marcus Breitschwert gemacht.
Letzter Mechaniker-Einsatz auf der Zielgeraden
Denn ausgerechnet der Gastgeber der Mercedes-Truppe bringt den Mechanikern quasi auf der Zielgerade doch noch einen Einsatz: „Mitten in der Innenstadt von Pavia löst sich der Schalthebel und es geht nichts mehr“, schüttelt Häberle den Kopf und erzählt von einer Notoperation am offenen Herzen – auf dem Bürgersteig, in praller Sonne und bei Temperaturen wie im Gewächshaus. Doch nach einer halben Stunde ist der Wagen wieder flott und außer dem Mittagsstopp auf dem Formel1-Kurz in Monza hat der oberste Mercedes-Mann nicht mal was verpasst.
In vier Tagen 1.600 Kilometer
Von dort aus ist es zurück nach Brescia nur noch eine bessere Spazierfahrt und vier Tage und 1.600 Kilometer nach dem Start sitzen Lohr und Häberle wieder zusammen im Brescia und sind beide erleichtert. „Eine Mille ist immer wieder ein unglaubliches Abenteuer, ein faszinierendes Erlebnis und eine Liebeserklärung an Autos wie dieses“, sagen beide unisono – und wer ihnen ins Gesicht schaut, entdeckt trotz der ganz unterschiedlichen Rollen noch eine weitere Gemeinsamkeit: Dicke Augenringe und eine förmlich greifbare Erschöpfung: Die langen Etappen, die kurzen Nächte und die hohen Temperaturen haben ihre Spuren hinterlassen. Jetzt gilt für Fahrer oder Mechaniker nach der Zieleinfahrt: „Erst ein Bier und dann ein Bett – und so schnell nicht wieder aufstehen.“