Fahrbericht: Mercedes-AMG GT Coupé
Lesezeit 4 Min. Wer sagt, dass neue Autos immer elektrifiziert sein müssen? AMG jedenfalls verzichtet beim neuen Supersportler GT Coupé auf jede E-Unterstützung. Stattdessen gibt’s bollernden V8-Sound und ein überbordendes Dynamikpotenzial.
SP-X/Granada. Die A-4130 mäandert in endlosen Schlangenlinien entlang der spanischen Sierra Nevada. Enge Kurven mit langen Geraden, frisch asphaltiert, ideales Terrain für eine Ausfahrt im neuen Mercedes-AMG GT 63 4matic. Mit kurzen Gasstößen bollert das flache Coupé ums Eck, während die grandiose Landschaft vorüber fliegt. Und wenn der Achtzylinder dumpf bellend durch die kleinen Dörfer rollt, reckt der eine oder andere Passant breit grinsend den Daumen.

315 km/h Spitze
Thumbs up für ein neu entwickeltes Auto, das einerseits so was von gestern ist und so gar nicht mehr in unsere elektrifizierte Automobilwelt passen will? Das mit vier Litern Hubraum, acht Zylindern, 430 kW/585 PS, 315 km/h Spitze und einem Verbrauch, der sich kaum unter 15 Liter drücken lässt, irgendwie aus der Zeit gefallen ist? Elektrische Unterstützung, 48-Volt-System? Fehlanzeige. Aber wenigstens gibt’s fürs Understatement demnächst zusätzlich den GT 55 mit einem über den Ladedruck auf 350 kW/476 PS gedrosselten V8.

Markt für Luxusfahrzeuge wächst weltweit rapide
Nun ist Deutschland nicht der automobile Nabel der Welt und Fahrzeuge wie der AMG GT werden rund um den Globus verkauft. In steigenden Stückzahlen sogar. Der Markt für Luxusfahrzeuge wächst weltweit rapide und die Nachfrage nach dem mindestens 188.700 Euro teuren GT dürfte das Angebot übertreffen. Leistungs- und preismäßig jedenfalls fährt der Zweitürer in einer Liga mit Modellen wie Porsche 911 Turbo, Audi R8 Coupé oder Aston Martin Vantage.

In der Regel Zweit- oder Drittfahrzeug
Doch bei aller Skepsis und allem ökologischem Grundverständnis sollte man sich solchen Autos ohne geistige Scheuklappen nähern. Es sind eben in der Regel doch nur Zweit- oder Drittfahrzeuge, die einen Bruchteil der durchschnittlichen Kilometerleistung eines Vielfahrers abspulen. Dabei lässt sich der neue GT auch im täglichen Einsatz bewegen. Zumindest, wenn man gerne in Sitze plumpst, die gefühlt nur wenige Zentimeter über der Fahrbahn montiert sind. Und wenn man so gelenkig aus dem Sportgestühl wieder raus kommt, dass es nicht peinlich wirkt.

Alltagstauglichkeit
Jedenfalls stand neben allen fahrdynamischen Aspekten auch das Thema Alltagstauglichkeit im Lastenheft der Entwickler. Weshalb es das sonst zweisitzige Coupé – Porsche lässt grüßen – jetzt auch in einer 2+2-Version mit Notsitzen für die Kids gibt. Werden die Lehnen geklappt, lässt sich auf der Urlaubsreise in dem für einen Sportwagen sehr passablen, tiefen und flachen Kofferraum zusätzlich Platz für das eine oder andere Kistchen edlen Weins finden. Und auch das muss erwähnt werden: Der V8 startet jetzt grundsätzlich im Komfortmodus, mit geschlossenen Auspuffklappen und somit weniger aggressiv aufheulend. Etwas Zurückhaltung ist immer gut fürs Image und passt in die Zeit.

Motorhaube bis zum Horizont
Doch lassen wir einfach die Faszination eines optisch extrem attraktiven Modells wirken, dessen Motorhaube sich beim Blick aus der engen Kabine bis zum Horizont zu strecken scheint. Die Kombination aus langer Haube und kompaktem Greenhouse, aus langem Radstand und kurzen Überhängen war schon immer die Basis jedes ernstzunehmenden Sportwagens. Sie lässt ihn schon im Stand schnell aussehen und satt auf den Rädern stehen. Auch beim GT funktioniert dieses Rezept. Die Designer in Affalterbach übernahmen die Grundform des fast 20 Zentimeter kürzeren Vorgängers, samt markantem, von einem ausfahrbaren Spoiler gekrönten Rundheck.

Technisch übernimmt das 4,73 Meter lange Coupé sehr viel vom 2022 eingeführten Roadster SL. Beispielsweise die beim Cabrio übliche verstärkte Karosserie. Da das Coupé ein festes Dach hat, wird die Steifigkeit zusätzlich erhöht. Ein Materialmix aus Stahl, Magnesium, Aluminium und Faserverbundwerkstoffen hält das Gewicht knapp unter zwei Tonnen. Fahrwerksteile aus Aluminium reduzieren zusätzlich die ungefederten Massen.
Aus dem Unterboden ausfahrendes Aerodynamik-Element
Das soll höhere Kurvengeschwindigkeiten erlauben und oben heraus Fahrstabilität bringen. Zusätzlich saugt ein ab 80 km/h bis zu 4 Zentimeter weit aus dem Unterboden ausfahrendes Aerodynamik-Element die Karosserie an den Asphalt.

In 3,2 Sekunden auf 100 km/h
Mag sein, erfahren lässt sich dies auf öffentlichen Straßen kaum. Es gehört Mut dazu, den GT an seine Grenzen zu treiben, ihn auf den verwinkelten spanischen Sträßchen auch nur ansatzweise aus der Ruhe zu bringen. Man könnte dazu in den Driftmodus schalten, der die Antriebskraft nur noch an die Hinterachse leitet. Oder einfach auf der Geraden Gaspedal durchdrücken und die brachiale Beschleunigung von 3,2 Sekunden auf 100 km/h erleben. Doch ein AMG GT ist in der Regel immer schneller als sein Pilot, der sowieso meist jenseits aller Tempolimits unterwegs ist. Und klickt man sich über den Drehknopf rechts unten am Lenkrad durch die Fahrprogramme bis in den Race-Modus, so rückt der Grenzbereich noch weiter in unerreichbare Gefilde. Spürbar ist jedoch, dass der neue GT etwas ausgewogener, weniger nervös fährt als der Vorgänger.
Interieur
Etwas mehr Ruhe täte allerdings auch dem Innenraum gut. Ja, die verchromten runden Lüftungsdüsen, das großzügig verlegte Leder mit den hübschen Ziernähten und die abgesteppten Sitzbezüge passen zum Anspruch der Luxusklasse. Und doch wirkt die vor Fahrer und Beifahrer aufgetürmte verschachtelte Landschaft mit dem 11,9 Zoll großen Zentralbildschirm etwas barock. Wie in der neuen E-Klasse ziehen sich zwei massive Querspangen mit jeder Menge Bedienelementen über die Breite des Lenkrads. Weniger wäre hier mehr, zumal die Sprachsteuerung des MBUX-Systems wie üblich bei Mercedes super funktioniert. Selbst der Ton der 64-farbigen Ambientebeleuchtung lässt sich mit „Hey Mercedes“ verstellen.
Genussvolles Cruisen
Wir wählen ein warmes, entspannendes Blau, schalten gedanklich wieder zwei Gänge zurück und lassen das Coupé leise blubbernd und sanft gefedert durch die Canyons der Sierra Nevada rollen. Genussvolles Cruisen? Auch das geht mit dem AMG GT Coupé. Sehr gut sogar.
Mercedes-AMG GT 63 4matic Coupé – Technische Daten (in Klammer: GT 55)
Sportcoupé der Luxusklasse; Länge: 4,73 Meter, Breite: 1,98 Meter, Höhe: 1,35 Meter, Radstand: 2,70 Meter, Kofferraumvolumen: 321 – 675 Liter
4,0-Liter-V8-Biturbomotor; 430 kW/585 PS (350 kW/476 PS), maximales Drehmoment: 800 Nm bei 2.500 U/min (700 Nm bei 2.250 U/min) , 0-100 km/h: 3,2 s (3,9 s), Vmax: 315 km/h (295 km/h), Allradantrieb, 9-Gang-Doppelkupplungsgetriebe, Normverbrauch: 14,1 Liter/100 km, CO2-Ausstoß: 319 g/km, Abgasnorm: Euro 6d
Preis: ab 188.704 Euro (GT 55: noch nicht bekannt)