Wie sich die Autoindustrie im Silicon Valley neu erfindet
Das Silicon Valley gilt längst als Vorreiter für die Zukunft des Autos. Hierbei handelt es sich jedoch nicht ausschließlich um Unternehmen wie Apple oder Google. Auch die PS-Giganten aus der alten Welt haben sich längst im Mekka des automobilen Fortschritts etabliert.
SP-X/San Franzisco. Kuschelsessel und Sitzsäcke statt Bürostühle und Konferenztische, Brain-Labs statt Werkstätten, vor jedem Besprechungsraum eine Sonnenterasse, die Wände mit Filzstiften beschrieben und in der Cafeteria ständig frische Smoothies oder entkoffeinierten Kaffee aus biologischem Anbau – das Entwicklungszentrum eines Automobilherstellers hätte man sich irgendwie ein bisschen anders vorgestellt. Erst recht eines von Mercedes.
Stuttgarts westlicher Außenposten in die Zukunft
Doch das hier ist nicht die Forschungsfabrik in Sindelfingen, wo zigtausende Ingenieure und Wissenschaftler am Mercedes von Morgen arbeiten. Der Glaspalast, der mit seinen bunten Möbeln auf der grünen Freifläche, der farbenfrohen Innenausstattung und dem verspielten Mobiliar ein wenig an das Bälleparadies eines Einrichtungshauses erinnert, steht im Silicon Valley eine Stunde südlich von San Francisco und ist Stuttgarts westlicher Außenposten in die Zukunft. Denn hier, wo die Nachbarn nicht Porsche, Bosch oder Siemens, sondern Apple, Google und Facebook heißen, entstehen seit Jahren die Trends, die den Lauf der Welt bestimmen. Nicht umsonst fahren draußen mehr Robo-Cabs von Waymo, Zoox oder Cruise vorbei als klassische Taxen und über autonome S-Klassen mit demonstrativ passiven Passagieren am Steuer wundert sich hier längst keiner mehr.
Damals eine typische Start-Up-Garage in Palo Alto
Mercedes hat als weltweit erster Autohersteller vor mehr als 25 Jahren ein Labor im Silicon Valley eröffnet. Damals noch ein 20 Mann-Betrieb in einer typischen Start-Up-Garage in Palo Alto, arbeiten hier heute mehrere hundert Entwickler und hatten jetzt mal wieder einen großen Auftritt. Gerade war der gesamte Vorstand zu Gast und hat Investoren und Journalisten hier nicht nur das Interieur der neuen E-Klasse gezeigt, deren E im Namen künftig auch E wie Entertainment belegen will. Mercedes-Chef Ola Källenius, Entwicklungsvorstand Markus Schäfer und Chefprogrammierer Magnus Östberg haben gleich auch noch das erste eigene Betriebssystem aus dem Hut gezaubert, das mit der neuen Elektroplattform MMA im nächsten CLA seinen Einstand geben und als MB.OS zur schlagkräftigen Waffe im Kampf gegen Tesla werden soll. Das soll die Elektronikarchitektur ihrer Fahrzeuge mit vier zentralen Domain-Controllern anstelle über 100 einzelner Steuergeräte und einer Cloud als Basis dramatisch vereinfachen und die Entwicklungszyklen von Hardware und Software weiter entkoppeln.
Next-Level Infotainment
Und während Östberg drinnen vor großem Publikum verspricht, dass Autos mit MB.OS nicht mehr älter, sondern wie ein guter Wein nur besser werden, weil sie ständig neue Funktionen aufspielen, arbeiten sie draußen schon daran, dieses Versprechen einzulösen. Deshalb sitzen die Programmierer nicht im Plenum, sondern in einer S-Klasse, die auf ihrer Luftfederung hüpft wie ein Kind auf dem Springball. Von außen sieht das gefährlich nach einem Programmierfehler aus. Doch drinnen läuft ein Action-Film und nachdem die neue E-Klasse schon das Sounderlebnis um Lichteffekte erweitert, wollen sie hier ein immersives Hollywood-Abenteuer wie im D-Box-Kino bieten und lassen deshalb den ganzen Wagen wippen, wenn auf dem Bildschirm ein Dinosaurier aufstampft. Und wenn er sein Maul aufreißt, weht ein heißer Hauch durch den Wagen. Nur gut, dass sie nicht auch den Raumduft integriert haben. „Noch suchen wir die richtige Mischung zwischen Infotainment und Irritation, aber schon bald könnte das eines der kommenden Updates werden“, sagt einer der Programmierer in der Pause.
Bereits mit ChatGPT kombiniert
Die füllt ein Kollege im EQS SUV daneben, in dem das Infotainmentsystem bereits mit ChatGPT kombiniert ist und munter mit den Insassen plaudert, als säße der Chatbot mit im Auto. Auch das ist bisweilen noch ein bisschen holprig. Doch wenn man bedenkt, dass die Software erst seit ein paar Wochen in den Nachrichten ist, sind die Mercedes-Männer mit ihrer Integration schon erschreckend weit.
„Das ist der ‚place to be’“
Aber genau deshalb sind sie ja hier und nicht in Stuttgart. Denn hier pulst der Zeitgeist und hier ist es, wo man solche Strömungen schneller aufnehmen kann als irgendwo sonst auf der Welt. Und deshalb sind sie auch längst nicht mehr alleine. Schon vor Jahren sind längst alle anderen Fahrzeugbauer und die meisten Zulieferer dem Beispiel der Schwaben gefolgt. BMW und die VW-Gruppe betreiben hier genauso ihren Außenposten wie Toyota oder Honda, Hyundai oder Kia, Bosch oder Continental. Und selbst die US-Hersteller haben gemerkt, dass Detroit zu weit ist, und deshalb ihre Fühler in die Bucht von San Francisco ausgestreckt. „Das ist der ‚place to be’“, sagte der Ford-Chef Mark Fields, als er vor mehr als zehn Jahren als letzter unter den Autobossen ein großes Forschungszentrum für damals 125 Ingenieure in Palo Alto eröffnete und ausgerechnet einen ehemaligen Apple-Manager zum Hausherrn ernannte.
Vor allem eine Frage der Mentalität
Dass den Experten das Valley als Nabel der neuen Welt gilt, hat so vielfältige Gründe, wie die Innovationen, die hier ihren Ausgang genommen haben. Doch neben dem hohen Lebens- und Freizeitwert der Region, der Nähe zu Universitäten wie Stanford oder Berkeley und den unzähligen Geldgebern ist es vor allem eine Frage der Mentalität, sagt Johann Jungwirth, der bei Mercedes in Sunnyvale groß geworden ist, dann bei Apple, Porsche und VW gearbeitet hat und gerade bei Mobileye am autonomen Fahren tüftelt: Das ungestillte Verlangen, etwas Neues zu erfinden und die Welt zu verändern, und vor allem der Mut, es tatsächlich auch auszuprobieren.
Daheim in Deutschland müsse man für neue Ideen immer erst mal ein paar Skeptiker überzeugen. „Das klappt doch nie“, sei da die Standard-Antwort, weil es immer irgendeinen Bedenkenträger gäbe. „Hier dagegen sagt man: Klasse, probier’s einfach mal aus.“ Und wer mit einer Idee scheitere, der ernte kein Mitleid, sondern trotzdem Applaus. „Hier im Valley weiß man, dass auf einen erfolgreichen Versuch 100 Fehler kommen und honoriert den Mut, es immer wieder zu versuchen.“
„Klasse, probier’s einfach nochmals mal aus.“
Jenseits des Atlantiks dagegen scheitert man und ist, wenn’s dumm läuft, für die nächsten Jahre unten durch. „Manche Erfindungen und Entwicklungen können deshalb nur hier und nicht in Deutschland gelingen“, ist Jungwirth überzeugt.
Der Geist aus Sunnyvale
In mehr als 25 Jahren ist auch viel vom Geist aus Sunnyvale nach Sindelfingen getragen worden und Sitzsäcke sind in Sindelfingen auf den Fluren mittlerweile genauso zu finden wie die Smoothies in der Kantine. Aber auch umgekehrt hat ein gewisser Wandel eingesetzt. Das merkt man spätestens beim „Chavez“, der bei den Expats von Sunnyvale der große Geheimtipp ist. Auch wenn der Supermarkt eigentlich mexikanisch ausgerichtet ist und der Kassierer nur spanisch spricht, hört man in den Gängen überraschend viel deutsch – und findet in den Regalen nicht nur Werthers Echte und Brot von Lieken Urkorn, sondern mittlerweile sogar original Schwäbische Spätzle.