60 Jahre Renault 4: Kultiges Anti-Statussymbol
Dieser kleine Franzose veränderte die Autowelt vor 60 Jahren nachhaltiger, als es Renault voraussah. Konzeptionell leistete der R4 Pionierarbeit als erster variabler Hochdachkombi mit Frontantrieb, zur Ikone der Popkultur avancierte der R4 jedoch als Anti-Statussymbol von PS-Verweigerern, Weltreisenden und Aktivisten.
SP-X/Köln. Die Revolution kam einmal mehr aus Frankreich. Vor 60 Jahren realisierte Renault mit dem legendären R4 eine neue Art von Automobil mit Ideen, die sich bis heute kaum noch verbessern ließen. Kantig, nüchtern, funktionell ohne damals gefragten Chrom-Glamour und PS-Protz unter der Haube, präsentierte sich der Renault 4 als Vorreiter variabler Vans und kompakter Hochdachkombis mit grandioser Raumaufteilung. Viel Platz für eine fünfköpfige Familie plus Campinggepäck, alternativ Raum für das Umzugsgut der ganzen studentischen Kommune oder sperrige Paletten des Großmarktlieferanten, das alles auf minimalistischen 3,65 Meter Länge, aber mit vier serienmäßigen Türen und weit aufschwingender Heckklappe: Die Konstrukteure dieses französischen Kleinwagens dachten das Auto bis ins Detail neu.
Der Prototyp des R4 hiess zur Tarnung Marie-Chantale
Deshalb vollzog der Renault 4 auch unter dem Blech eine Kehrtwende, weg vom braven Konzept des hübschen Heckmotor-Vorgängers 4CV hin zu den Attitüden einer selbstbewussten Aktivistin namens Marie-Chantale, wie die Prototypen des Renault 4 zur Tarnung hießen. Mit effizientem Downsizing-Vierzylinder, Frontantrieb, Einzelradaufhängung und Komfortfederung zeigte Marie-Chantale den Weg in die Zukunft kleiner Vielseitigkeitskünstler. Tatsächlich wurden vom Renault 4 bis 1992 über acht Millionen Einheiten verkauft, avancierte der Revoluzzer doch auch zu einem Anti-Statussymbol von Studenten und der 1968er-Generation.
Minimalistischen Stahl-Rohrrahmensitze mit Segeltuchbespannung
Der R4 als Ikone von Linksintellektuellen, PS-Verweigerern, Kernkraftgegnern, frühen Umweltaktivisten, Friedensdemonstranten und als Vehikel von Weltreisenden: Diese Rolle füllte der zuverlässig laufende Gallier in Deutschland ganz besonders überzeugend aus – und erinnerte damit zugleich an die charmante französische Lässigkeit des Citroen 2CV. Details wie das anfangs 17 kW/23 PS abgebende 0,7-Liter-Motörchen – in Frankreich gab es sogar eine noch schwächere R3-Version für Vmax 90 km/h auf topfebenen Route Nationales – und die minimalistischen Stahl-Rohrrahmensitze mit Segeltuchbespannung sowie simple Schiebefenster verstärkten diese Assoziationen. Citroen-Chef Pierre Bercot entdeckte ebenfalls Parallelen zum bereits 1948 lancierten Zweizylinder „Deux Chevaux“ und führte prompt einen zwei Jahre währenden Plagiatsprozess gegen Renault, letztlich jedoch erfolglos.
Premiere in Frankfurt an der IAA 1961
Tatsächlich plante Renault-Generaldirektor Pierre Dreyfus eine gänzlich andere automobile Provokation mit seinem Vierzylinder-Kleinwagen, sollte doch dieser von Beginn an nicht nur Frankreich, sondern mehr als 100 Länder motorisieren – klassensprengend und als Gegenentwurf zum konventionellen Auto. Ein Gebrauchsgegenstand, genauso wie die damals global in Mode kommende Blue Jeans. Deshalb feierte der automobile Aktivist seine Premiere nicht in Paris, sondern auf dem Podium des Frankfurter Autosalons. War die IAA doch 1961 wichtigstes Sprungbrett für den Weltmarkt. Die Deutschen hatten mit dem progressiven Alternativentwurf zum angejahrten Volkswagen Käfer aber anfangs ein Problem, Fachmedien meinten gar: „Dieses Auto wird sich in Deutschland niemals verkaufen lassen“ – und tatsächlich dauerte es, bis der Esprit der Swinging Sixties auch das Land der Käfer- und Kadett-Käufer erfasste.
Renault 4: Genial und vielseitig
Als der R4 allmählich die modebewussten Frauen faszinierte (ab 1963 mit Haute-Couture-Editionen wie dem R4 Parisienne), die Handwerker und Obsthändler beeindruckte (mit dem Lademeister Fourgonnette), die Surfer- und Beachparty-Community ins Herz traf (ab 1969 mit hierzulande raren R4 Plein Air und Renault 4 Rodeo) und sich die Typen R4 L bzw. Export dank Heckklappe und erstmals komplett falt- und klappbarer Rückbank für Studenten, Professoren, Fahranfänger und Familien als genial vielseitige Alternative zur Ente und anderen Minimalisten etablierten, ab da war Renault plötzlich größte Importmarke in Deutschland. In Zahlen ausgedrückt: Von 16.540 Zulassungen im Jahr 1965 (ab diesem Jahr hieß der R4 offiziell Renault 4) explodierte der Absatz auf 84.900 Stück im Jahr 1970. Als sich der kantig-kastige Typ 1988 mit dem Sondermodell „Salü“ aus Allemagne verabschiedete, hatten insgesamt 930.000 Einheiten deutsche Fans gefunden. Den finalen Renault 4 erwarb übrigens der TV-Moderator Günther Jauch.
Andere Länder, andere Kose-Namen
In anderen Ländern fand der auf drei Kontinenten produzierte Kleinwagen schneller seinen Platz als klassenloses Volksmobil und treuer Kumpel fürs Leben. Davon zeugen auch die rund 50 verschiedenen Kose- und Spitznamen. Ist es in Frankreich ein charmantes La Quatrelle („die 4 L“), feiern Kolumbianer den Amigo Fiel („treuen Freund“), Finnen den spritsparenden Tippa („Tropfen“), Schweden das 1,55 Meter nach oben ragende Hochdachkonzept als Giraffstall („Giraffenstall“), Kroaten die Katrica oder die Bewohner Zimbabwes das geländegängige Noddy Car in Anlehnung an Enid Blytons kurioser Kinderbuchfigur.
Tatsächlich rüstete 4×4-Spezialist Sinpar den R4 schon ab 1963 mit Allradantrieb aus, eine Technik, die das serienmäßig nie mehr als 25 kW/34 PS leistende Multitalent zu überraschenden Motorsporterfolgen beflügelte, wie ein Podiumsplatz bei der Rallye Paris-Dakar 1980 bewies.
Auch als Rennsportler aktiv
Sein Rennsportdebüt gab der auf Autobahnen maximal 110 bis 120 km/h flotte Renault 4 aber bereits 1962 bei der Rallye Monte Carlo. Dort konnte der kleine Gallier die mangelnde Muskelmasse durch formidable Fahreigenschaften dank Front-Mittelmotor-Prinzips (der Vierzylinder war zugunsten optimaler Gewichtsverteilung nahe der Fahrzeugmitte platziert) und einer legendären Zuverlässigkeit ausgleichen. Damit reüssierte der R4 auch bei der berühmt-berüchtigten East African Safari Rallye (1962), bei Expeditionsfahrten wie einer 13.000-Kilometer-Tour durch die Anden (1962) oder dem Marathontrip Feuerland-Alaska, den 1965 die „4 Elle“, ein französisches Damenquartett, problemlos absolvierte.
Respekt der 4×4-Community
Renault selbst startete 1965 ein Jugend-forscht-Programm unter dem Titel „Routes du Monde“ (Straßen der Welt), das bis 1984 lief und Expeditionen mit dem Renault 4 sponsorte. Die Teilnehmer durften maximal 25 Jahre alt sein. Jedes Mal, wenn der kleine Gallier in Camps in Nepal, Kenia oder in den Anden auf Hardcore-Offroader vom Schlag eines Land Rover oder Toyota Land Cruiser traf, war ihm der Respekt der 4×4-Community sicher.
Der R4 kannte nur einen Feind: Streusalz
Auch im Straßenalltag zählte der Franzose zu den verlässlichen Dauerläufern, vorausgesetzt es wurde ihm regelmäßige Pflege und Wartung zuteil. Lanciert in einer Dekade, in der andere Hersteller noch Prämien auslobten für Fahrer, die 100.000 Kilometer mit dem ersten Motor schafften, scheute der R4 keine Torturen und nur einen Feind: Streusalz. In Ländern wie Deutschland eliminierte die Korrosion die Karosserie und Rahmen des meistgebauten Renault oft schneller als Werkstätten schweißen konnte. Obwohl Renault dem Rosttod Schutzmaßnahmen entgegensetzte, verschwanden die meisten R4 nach dem Produktionsende 1992 erschreckend schnell von den Straßen. Für die Clubszene Grund, die verbliebenen R4 besonders liebevoll zu pflegen und abzuwarten, bis das von Renault als 4ever angekündigte Elektroauto debütiert.
Chronik Renault R4:
1956: Renault-Generaldirektor Pierre Dreyfus regt das Projekt eines Kleinwagens mit gutem Federungskomfort an
1958: Unter der Entwicklungsnummer 350 (der Wagen soll nicht mehr als 350.000 (alte) französische Francs kosten) fällt die Entscheidung zur Konstruktion der Serienversion des Renault R4. Später läuft das Projekt unter der Nummer 112
1959: Das Karosseriedesign wird endgültig festgelegt, die Techniker taufen den Neuen „Marie-Chantal“
1961: Pressefahrvorstellung des R4 in der Camargue im Juni und Juli. Die Serienproduktion von R4 und R3 läuft am 3. August in Paris-Billancourt an. Am 28. August endet die Sperrfrist für die Berichterstattung. Am 21. September feiert der R4 Weltpremiere auf der IAA als Nachfolger des Renault 4 CV mit Heckantrieb. Am 4. Oktober Galavorstellung im Palais de Chaillot in Paris. Am 6. Oktober Debüt auf dem Pariser Salon, zusammen mit dem Basismodell R3 und dem Transporter Fourgonnette.
1962: Im Frühjahr Verkaufsstart in Deutschland für den R4, im Herbst folgt der Fourgonnette als Kombi und Transporter. Die Fertigung des Fourgonnette beginnt, neu ist außerdem der R4 Super mit 19 kW/26 PS. Produktionsauslauf des R3. Neue Spitzenversion wird der R4 Super. Der R4 startet unter Jo Schlesser erstmals bei der Rallye Monte Carlo und erreicht das Ziel. Bei der East African Safari belegt der R4 sogar den fünften Rang seiner Klasse. Vier Studenten absolvieren mit einem R4 eine Andenexpedition über 13.000 Kilometer und auf Höhen von bis 4.500 Metern
1963: Mehr Leistung für den R4 L (19 kW/26 PS). Vorstellung des Sondermodells R4 Parisienne und der Version R4 Export mit luxuriöseren Sitzpolstern. Bei der Rallye Monte Carlo belegt der R4 den beachtlichen 68. Rang in der Gesamtwertung. Sinpar entwickelt eine 4×4-Version des R4, die auch beim Langstreckenrennen Sidney-Paris reüssiert
1964: Am 3. März läuft der 500.000. R4 vom Band. Einführung des Sinpar 4×4, des R4 Export mit umfangreicherer Ausstattung und des R4 Parisienne mit Schotten- oder Korbflechtmuster auf den Türen
1965: Der R4 wird offiziell in Renault 4 umbenannt und erhält technische Detailmodifikationen. Die „4 Elle“, ein französisches Damenquartett absolviert, im Renault 4 die extreme Fernfahrt Feuerland-Alaska durch Dschungel und über 5.200 Meter hohe Pässe
1966: Der Renault 4 wird am 1. Februar Produktionsmillonär. Renault startet das Programm „Routes du Monde“ (Straßen der Welt), das bis 1984 läuft und extreme Fernreiseprojekte mit dem Renault 4 sponsort, die Teilnehmer sind zwischen 18 und 25 Jahre alt
1967: Modellpflege, u.a. mit neuer Armaturentafel und größeren Bremstrommeln
1968: Mit 368.566 Einheiten erreicht die Renault-4-Produktion ihren historischen Jahresbestwert, insgesamt wurden bereits über zwei Millionen R4 produziert. Einführung eines vollsynchronisierten Viergang-Getriebes. Markant sind außerdem die nun in den neu designten Kühlergrill integrierten Scheinwerfer
1969: Die Version Renault 4 Plein Air mit Faltverdeck ohne Türen wird eingeführt
1970: Debüt des Renault 4 Rodeo mit Kunststoffkarosserie. Mit 86.000 Zulassungen erreicht der Renault 4 in Deutschland einen Marktanteil von 4,03 Prozent
1971: Die elektrische Anlage wird von Sechs- auf Zwölf-Volt-Betrieb umgestellt. Der Renault 4 knackt die Drei-Millionen-Produktionsmarke
1973: Die deutschen Versionen des Renault erstarken von 26 auf 34 PS und erreichen jetzt eine Vmax von 120 statt wie bisher 110 km/h
1974: Neues Vierganggetriebe aus dem Renault 6
1975: Modellpflege, u.a. mit Kühlergrill aus schwarzem Kunststoff, und von 26 auf 34 Liter vergrößertes Tankvolumen
1976: Renault 4 Safari mit Polsterbezügen im Stil einer Hängematte
1977: Als erstes französisches Auto durchbricht der Renault 4 die Produktionsschallmauer von fünf Millionen Einheiten. Umfangreiche Modellpflege, u.a. mit Einführung von Zweikreis-Bremsanlage, Verbundglas-Frontscheibe, Automatikgurten, Kopfstützen und Halogenscheinwerfern
1978: Neue Spitzenversion Renault 4 GTL. Kataphoresebad im Produktionsprozess soll der Korrosion vorbeugen
1979: Neuer 1,1-Liter-Vierzylinder-Motor mit 34 PS Leistung im Renault 4 GTL, optional gibt es den GTL mit Flüssiggasantrieb. Neu ist außerdem der Renault 4 Transporter F6 mit längerem Radstand gegenüber dem außerdem angebotenen F4-Transporter. Bei der Erstauflage der Marathon-Rallye Paris-Dakar belegen die Brüder Marreau mit einem Renault 4 Sinpar den zweiten Platz der Automobilwertung
1980: Die Produktion des Renault 4 durchbricht die Sechs-Millionen-Marke. Die Brüder Marreau werden mit einem Allrad-Renault 4 Dritte in der Automobilwertung bei der Rallye Paris-Dakar und Zweite bei der Rallye Tunesien
1981: Sondermodell „Jogging“ und neue Interieurdetails wie andere Polsterstoffe und zweistufiges Gebläse
1982: Außer in Frankreich wird der Renault 4 auch in Angola, Argentinien, Belgien, Chile, Elfenbeinküste, Ghana, Irland, Jugoslawien, Kolumbien, Madagaskar, Marokko, Portugal, Spanien, Tunesien, Uruguay und Zaire gefertigt und in über 100 Ländern verkauft
1983: Neues Armaturenbrett aus dem Renault 18, neues Lenkrad aus dem Renault 5 und Scheibenbremsen an den Vorderrädern für alle Renault 4 mit 1,1-Liter-Motor
1985: Produktionsende für den Transporter Renault 4 F6
1986: Mit schadstoffärmerem, neuem Motor erhält der Renault 4 GTL in Deutschland eine Kfz-Steuerbefreiung für drei Jahre und zwei Monate
1988: Mit dem auf 500 Einheiten limitierten Sondermodell Salü verabschiedet sich der Renault 4 im Dezember aus Deutschland. Insgesamt wurden hierzulande 900.300 Renault 4 zugelassen, das letzte Exemplar sicherte sich Fernsehmoderator Günther Jauch
1992: Finaler Produktionsauslauf mit dem Sondermodell „Bye-Bye“ (Auflage 1.000 Einheiten)
1998: Der Renault Kangoo soll die Tradition des R4 fortsetzen, erreicht aber weder dessen Erfolg noch dessen Kultstatus
2000: Bei der Rallye Griechenland erfolgt der letzte Rallye-Weltmeisterschaftslauf mit einem Renault 4
2011: Der Renault 4 begeht seinen 50. Geburtstag mit einem von Renault gestarteten Designwettbewerb, zu dem mehr als 3.000 R4-Fans aus 92 Ländern ihre Entwürfe einsenden
2021: Renault feiert das Kultmodell mit über das ganze Jahr verteilten Aktionen in den sozialen Medien, mit Illustrationen des Grafikkünstlers Greg, Ausstellungen im Atelier Renault an den Champs-Elyées, einer Videoserie, Auftritten bei Filmfestspielen von Cannes und einem Elektroautotreffen mit R4
2024: In diesem Jahr könnte der Renault 4 als vollelektrischer Renault 4ever sein Comeback feiern, wie Renault im Sommer 2021 andeutete
Ausgewählte Produktionszahlen Renault 4
Renault 4: 8.135.424 Millionen Einheiten (1961-1992)
Renault 3: 2.571 Einheiten (1961-1962)
Wichtige Motorisierungen Renault 4:
Renault R3/R4 (1961 bis 1962) mit 0,6-Liter-Vierzylinder-Benziner (15,5 kW/21 PS)
Renault R4 L (1961 bis 1963) mit 0,7-Liter-Vierzylinder-Benziner (17 kW/23 PS bzw. 17 kW/24 PS bzw. 19 kW/26,5 PS)
Renault R4 Super/R4 L (1962 bis 1986) mit 0,8-Liter-Vierzylinder-Benziner (19 kW/26 PS bzw. 20 kW/27 PS bzw. 25 kW/34 PS)
Renault 4 Rodeo (1970 bis 1976) mit 0,8-Liter-Vierzylinder-Benziner (25 kW/34 PS)
Renault 4 Rodeo (1976 bis 1981) mit 0,8-Liter-Vierzylinder-Benziner (25 kW/34 PS)
Renault 4 GTL (1978 bis 1992) mit 1,1-Liter-Vierzylinder-Benziner (25 kW/34 PS)
Renault 4 L Super (1986 bis 1992) mit 1,0-Liter-Vierzylinder-Benziner (25 kW/34 PS)