60 Jahre Alfa Romeo Giulia (Baureihe 105/115)
Heute machen viertürige Crossover-Coupés sportive Mode, vor 60 Jahren war die Alfa Giulia der erste reinrassige Sportwagen mit quattro porte für die ganze Familie. Im charakterstarken Design mit ikonischem coda-tronca-Heck und mit feurigen Motoren unter der Haube schrieb die Giulia Geschichte als Vorbote aller GTI.
SP-X/Köln. Dieser italienische Name entfaltet seine eigene Magie. Giulia, so heißt ein Chor des Petersdomes, eine päpstliche Sommerresidenz, die Geliebte des Romeo in der berühmtesten Liebesgeschichte der Welt und seit 1962 eine legendäre Mittelklasse-Limousine von Alfa Romeo. Bezahlbare Sportlichkeit für flotte Familienausflüge mit mehreren Bambini, vor allem aber heißblütige Motorsporttechnik und günstiges Leistungsgewicht für sonntägliche Siege auf Rundstrecken, das Ganze verpackt in charismatische viertürige Charakter-Formen: Die Alfa Giulia wirkte wie aus anderen Sphären.
Charakterstarke Karosserie mit forscher Doppelscheinwerfer-Front
War die Mailänder Marke zuvor mit der romantisch-rundlich konturierten Giulietta in den Kreis der Massenhersteller aufgestiegen, bereitete nun die markante Nachfolgerin Giulia den Boden für Familienflitzer, die bei anderen Herstellern ab den 1970ern ein GTI-Signet trugen. Schon beim Debüt der Giulia auf dem Autodromo Monza wussten die anwesenden Medienvertreter kaum, wohin sie zuerst blicken sollten: Eine derart charakterstarke Karosserie mit neuartig forscher Doppelscheinwerfer-Front, die freie Bahn zu fordern schien, und mit im Windkanal auf den damals sensationellen cW-Wert 0,34 getrimmten kantigen Formen hatte die Autowelt noch nicht erlebt. Keine fließend-rundlichen, lang auslaufenden Stromlinien, sondern ein Abrissheck nach der Lehre des Aerodynamikers Wunibald Kamm, bei Alfa „coda tronca“ genannt, kennzeichnete diese Berlina. Die Giulia war anders und das fasziniert bis heute.
Stilvolle italienische alta moda
Tatsächlich ist die Giulia für alle mit Kindern das viertürige Herz der Marke. Ein Cuore, für das es nach Einstellung der intern 105/115 genannten Baureihe im Jahr 1978 keinen würdigen Nachfolger gab. Ob neue Giulietta, Alfa 75, 155, 156 oder 159, kein Modell konnte die Aura der Markenikone in die Zukunft führen. Erst die seit 2015 gebaute Giulia (Typ 952) entfaltet wieder einen eigenen Zauber, der sie prompt auf die Titelseiten italienischer und sogar amerikanischer Zeitungen brachte. Dazu trägt wie einst nicht nur stilvolle italienische alta moda bei, sondern auch ein spektakulärer Highend-Motor. Sind es heute bis zu 375 kW/510 PS aus einem V6 mit Ferrari-Genen, genügten der Giulia TI im Jahr 1962 noch 68 kW/92 aus einem modernen 1,6-Liter-Aluminiummotor mit zwei oben liegenden Nockenwellen. Damit konnte die rassige Italienerin bereits über Speedsymbole wie BMW 1500 oder Porsche 356 hinauswachsen.
Giulia TI Super mit 82 kW/112 PS und 190 km/h
Muskeln für schnelle Rundenzeiten zeigte 1963 ebenfalls erstmals auf dem Rennkurs von Monza das 960 Kilo leichte Homologationsmodell Giulia TI Super mit 82 kW/112 PS für fast 190 km/h. „Wer am Volant der Giulia Super sitzt, hat sofort das Gefühl, in einem Gran Turismo-Wagen zu sein“, erklärte die Werbung. Dieses auch von Fachmedien hochgelobte Mailänder Sportgerät – übrigens mit einem Armaturenbrett aus edlem Mahagoni, außergewöhnlichem Fünfgang-Getriebe sowie aufwändiger Fahrwerkskonstruktion – war kurzzeitig konkurrenzlos, nicht einmal der doppelt so teure Jaguar MK II konnte es mit der kompakte 4,11 Meter messenden Giulia aufnehmen. Auch BMW ermöglichte Sportfahrern mit Rennlizenz erst mit dem 1800 TI-SA echte Siegchancen. Insgesamt erwuchsen der Giulia-Baureihe erst mit dem Aufkommen immer vielfältigerer BMW-Neue-Klasse-Derivate und Modellen wie Triumph Dolomite Sprint oder Fiat 124/125 Special sowie der GTI/GT-Inflation in den 1970ern viele Konkurrenten.
Giulia mit 57 kW/78 PS und 1,3-Liter-Motor
Auf deutschen Straßen blieb die Giulia anfangs rar, daran änderten fast perfekte Ergebnisse in Dauertests und in Qualitätsrankings wenig. Dazu musste Alfa in den 1960ern erst einmal ein flächendeckendes Vertriebsnetz aufbauen. Danach und mit der Lancierung preiswerterer Typen wie der Giulia mit 57 kW/78 PS abgebendem 1,3-Liter-Motor und einfachen Rundscheinwerfern hoben die deutschen Verkaufszahlen ab; ein Höhenflug, wie ihn die kernig klingende Berlina weltweit bis Ende der 1970er zelebrierte.
Fertigung in dem neuen und größeren Standort Arese
Insgesamt wurden in 17 Jahren 572.646 viertürige Giulia (davon allein gut 273.000 Giulia Super aller Evolutionsstufen) gebaut. Übrigens war dazu die Fertigung vom Alfa-Stammwerk Portello in den neuen größeren Standort Arese gewechselt. Die Giulia als bis dahin meistverkauftes Alfa-Modell trotzte sogar den endlosen Qualitätsdiskussionen, die vom mies verarbeiteten Alfasud, vielen Streiks in Alfa-Werken und allgemein schlechten Stahlqualitäten losgetreten wurden.
Marke für Individualisten
Alfa Romeo galt schon damals als Marke für Individualisten und Enthusiasten, und dazu passte das gewöhnungsbedürftige Design der Giulia Berlina, die auch mit Details wie der kuriosen mittigen Einkerbung am Kofferraumdeckel zugunsten besserer Aerodynamik polarisierte. Ganz anders übrigens die weiteren Abkömmlinge der großen Giulia-Familie. Gab es die hochgelobten Doppel-Nockenwellen-Vierzylinder doch auch in Coupé- und Spider-Designs, die ursprünglich als Giulietta Sprint und Spider (mit Pininfarina-Signet) verkauft wurden, dann aber unter dem Namen Giulia liefen.
Coupé Giulia Sprint GT von Bertone
Hinzu kam 1963 das von der Carrozzeria Bertone realisierte Coupé Giulia Sprint GT, ein dynamischer Zweitürer, der in Deutschland als „Alfa Bertone Coupé“ bekannt wurde und bis 1976 mit Motoren zwischen 1,3 und 2,0 Liter Hubraum Achtungserfolge in der Zulassungsstatistik erzielte. Nicht zu vergessen die sportlichen Lorbeeren auf Rennstrecken. Rar blieben dagegen das Cabriolet Giulia GTC und ein Zagato-Entwurf. Diese exzentrische Carrozzeria hatte einst das Sportcoupé Giulietta SZ kreiert, aus dem die schrille und schnelle Weiterentwicklung Giulia Tubolare Zagato (TZ) hervorging. Schließlich gab es zusätzlich noch ein Sportcoupé namens Giulia GT Junior Zagato, technisch eng verwandt mit den Bertone-Coupés.
Auch die Polizia und Carabinieri fuhren Alfa Romeo
Zurück zur Berlina, jener Limousine, die auf Behörden- oder besonderen Privat- Kundenwunsch auch als Kombi-Umbau erhältlich war. Mindestens fünf Carrozzerie lieferten unterschiedlich ausgeführte Fünftürer namens Combinata und Giardiniera vorzugsweise an Polizia und Carabinieri. Sanfte, regelmäßige Modellpflegen – Jahresringe, die sich optisch am Chrom-Grill und den Stoßstangen reflektierten – hielten die agile bella macchina attraktiv. Nur ein Facelift fand nicht bei allen Fans Anklang: Im Jahr 1974 kommunizierte die neue Typenbezeichnung Nuova Giulia einen zeitgeistigen Plastik-Kühlergrill, einheitliche Größe der Doppelscheinwerfer, eine geglättete Motorhaube sowie Kofferraumdeckel ohne Knick.
Zum 60. Jubiläum die aktuelle Giulia 2.9 Quadrifoglio
Vom klassischen Stil kündeten immerhin das große Holzlenkrad und Holzeinlagen in der Mittelkonsole. Unter der Haube nagelte es nun auf Wunsch, denn mit einem 38 kW/52 PS abgebenden Selbstzünder zollte Alfa den mit der Ölkrise explosionsartig gestiegenen Benzinpreisen Tribut: ein 138 km/h lahmer und lauter Diesel, den nur gut 6.500 Kunden wollten. Giulia, dieses Wort verkörpert eben bis heute auch stilvollen Motorensound und maximale Velocità. Viel Tempo, wie es heute zum 60. Jubiläum der Markenikone die aktuelle Giulia 2.9 Quadrifoglio (Typ 952) bereithält, die dem sehr exklusiven Club über 300 km/h schneller Viertürer angehört.
Chronik Alfa Romeo Giulia:
1959: Der Prototyp Alfa Tipo 103 wird als 3,60 Meter kurzer Viertürer entwickelt mit einem 0,9-Liter-Vierzylinder im Frontantriebslayout. Auch wenn dieses Modell nicht in Serie geht, zeigt es doch wesentliche Designelemente der größeren Giulia. Entwicklungsbeginn der Giulia als familientaugliche und sportliche Limousine unter Chef-Konstrukteur Orazio Satta Puliga als Nachfolger der Giulietta. Das Marketing läuft unter „La macchina di famiglia che vince le corse“ (Das Familienauto, das Rennen gewinnt), das Debüt erfolgt 1962 auf dem Autodrom Monza. Verantwortlich für das Design der Giulia Berlina ist Giuseppe Scarnati vom Centro Stile Alfa Romeo. Die Giulia wird im Windkanal finalisiert und verfügt über den beispielhaften Luftwiderstandsbeiwert von Cw 0,34. Die Giulia verfügt über eine Sicherheitsfahrgastzelle mit definierten Knautschzonen an Front und Heck
1962: In Monza feiert am 27. Juni die Giulia T.I. (Tipo 105.14) mit 92 PS leistendem 1,6-Liter-Motor Weltpremiere. Die Giulia ist designierte Nachfolgerin der Giulietta. Vorstellung und Einführung von Giulia Sprint (Weiterentwicklung der Giulíetta Sprint) und Giulia Spider (aus der Giulietta Spider hervorgegangen). Kombis sollen das Programm ergänzen, dies von Karossiers. Dazu zählen die Carrozzeria Colli (Mailand), Grazia (Bologna), Introzzi (Como), Marazzi und Giorgetti. Abnehmer sind die italienische Polizia Stradale und Polizia Municipale sowie Carabinieri, Alfa-Vertriebspartner und Privatkunden.
1963: Neue sportliche, nur 910 kg wiegende Spitzenversion TI Super mit 112 PS für 190 km/h Spitzengeschwindigkeit. Produktion in 501 Exemplaren für die Homologation der Gruppe 2. Einführung der 112 PS starken Giulia T.I. Super (Tipo 105.16) mit zwei Doppelvergasern, ab August Scheibenbremsen rundum bei allen Giulia Berlina Serie. Einführung des Bertone-Coupés Giulia GT und des Sportwagens Giulia TZ
1964: Am 11. Juni debütiert in Monza die Einstiegsversion Giulia 1300 (Tipo 105.06) mit 78 PS leistendem 1,3-Liter-Motor. Erkennungszeichen sind Einzelscheinwerfer, einfachere Ausstattung und Viergang-Getriebe. Die Cabrio-Version des Coupés Giulia GT debütiert unter dem Kürzel GTC. Der Karossier Colli bietet die Kombitypen Combinata und Giardiniera an
1965: Die Giulietta wird aus der Produktion genommen. Neu im Programm sind die 98 PS leistende Giulia Super (105.26) mit zwei Doppelvergasern und der 82 PS starke 1300 T.I. (105.39) mit kürzerer Übersetzung
1966: Detailmodifikationen im Interieur und neue Edelstahlstoßstangen für Giulia T.I. (105.08)
1967: Modellpflege (u.a. schwarzer Kühlergrill mit fünf Zierleisten) für Giulia 1300 (105.06) mit 78 PS bzw. 1300 T.I. (105.39) mit 82 PS und Giulia Super (105.26) mit 98 PS
1968: Giulia 1600 S (Tipo 105.85) mit 95 PS ersetzt Giulia T.I.
1969: Neu ist der Giulia 1300 T.I. (105.39) mit 85 PS, erkennbar an modifizierten Stoßstangen. Giulia Super (105.26) jetzt mit 102 PS Leistung. Mit Zagato-Karosserie debütiert das Sportcoupé Giulia GT Junior Zagato
1970: Neu ist der Typ Giulia 1300 Super (Tipo 115.09) mit 89 PS
1972: Modellpflege für alle Limousinen, neue Versionen Giulia Super 1.3 (115.09) und Giulia Super 1.6 (105.26) mit neuem Dreispeichenlenkrad und weiteren Modifikationen
1974: Facelift für alle Giulia mit Modifikationen an Front und Heck, geglätteter Karosserie und Kunststoffkühlergrill. Typenbezeichnungen jetzt Nuova Super 1.3 (115.095) mit 89 PS und Nuova Super 1.6 (105.265) mit 102 PS
1976: Als erste italienische Limousine wird die Giulia mit Dieselmotor (115.40) vorgestellt. Der 1,8-Liter-Selbstzünder von Perkins verfügt über 50 bis 52 PS Leistung und stammt aus dem Transporter F12
1977: Die zweite Giulietta-Generation wird als Nachfolgerin der Giulia vorgestellt
1978: Produktionseinstellung der Giulia Berlina
1981: In der deutschen in über 300 Folgen ausgestrahlten TV-Krimiserie „Ein Fall für Zwei“ spielt eine Alfa Giulia die automobile Hauptrolle
2008: Alle Alfa Giulia Berlina sind Oldtimer und Kandidaten für ein H-Kennzeichen
2015: Eine neue Generation der Giulia (Serie 952) debütiert im Juni in Arese und feiert im Folgejahr Marktstart
2022: Vor 60 Jahren debütierte die erste Giulia, ein Jubiläum, das von Alfa Romeo und den Fans gefeiert wird
Produktionszahlen Alfa Romeo Giulia:
Alfa Romeo Giulia insgesamt (1962-1978): 819.336 Einheiten.
Davon Giulia Limousine sowie Kombiversionen in 572.646 Einheiten (1962-1978). Meistverkaufte Berlina ist der 1300 TI mit 144.213 Einheiten von 1965 bis 1972. Außerdem Giulia GT (Bertone-Coupé) 225.215 Einheiten (1963-1976); Giulia GTC ca. 1.000 Einheiten (1964-1966); Giulia GT Junior Zagato ca. 1.510 Einheiten (1969-1975); Giulia TZ 117 Einheiten (1963-1967); Giulia Sprint 8.507 Einheiten (1962-1964) und Giulia Spider 10.341 Einheiten (1962-1965).
Zum Vergleich: Vorhergehende Giulietta-Gesamtproduktion (1954-1964): 179.000 Einheiten
Motorisierungen Giulia Berlina:
Alfa Romeo Giulia 1600 T.I. (1962-1967, 1,6-Liter-Vierzylinder mit 68 kW/92 PS), Giulia 1600 T.I. Super (1963-1964, 1,6-Liter-Vierzylinder mit 82 kW/112 PS), Giulia 1300 (1964-1971, 1,3-Liter-Vierzylinder mit 57 kW/78 PS), Giulia Super (1965-1972, 1,6-Liter-Vierzylinder mit 72 kW/98 PS), Giulia 1300 TI (1966-1972, 1,3-Liter-Vierzylinder mit 60 kW/82 PS bzw. 63 kW/85 PS), Giulia 1300 Super (1970-1972, 1,3-Liter-Vierzylinder mit 65 kW/89 PS bzw. mit 64 kW/87 PS), Giulia 1600 S (1968-1970, 1,6-Liter-Vierzylinder mit 70 kW/95 PS), Giulia Super (1969-1972, 1,6-Liter-Vierzylinder mit 75 kW/102 PS bzw. 76 kW/103 PS), Giulia Super 1.3 (1972-1974, 1,3-Liter-Vierzylinder mit 65 kW/89 PS), Giulia Super 1.6 (1972-1974, 1,6-Liter-Vierzylinder mit 75 kW/102 PS bzw. 76 kW/103 PS), Giulia Nuova Super 1.3 (1974-1978, 1,3-Liter-Vierzylinder mit 65 kW/89 PS), Giulia Nuova Super 1.6 (1974-1978, 1,6-Liter-Vierzylinder mit 75 kW/102 PS), Giulia Nuova Super Diesel (1976-1978, 1,8-Liter-Vierzylinder-Diesel von Perkins mit 38 kW/52 PS).